Feminist*innen wurden schwule Manner ausschliessen, kritisierte Aktivist und GLP-Grossrat Johannes Sieber im Bajour-Interview. Jetzt reagiert SP-Grossratin Michela Seggiani, selbst Feministin, Politikerin und offen lesbisch lebende Frau.
Lieber Johannes Sieber, du sagst: «Das patriarchale Gefuge unterdruckt schwule Manner genauso wie Frauen». Das mag stimmen. Aber hey: Echt jetzt? Frauen so ganz allgemein? Was ist mit den Lesben?
Ware doch auch perfect match mal wichtig zu eruieren, wie viele lesbische Frauen psychische Probleme haben, wie hoch ihre Selbstmordrate ist und wie Betroffene mit ihrer Unsichtbarkeit umgehen. Und was ist mit all den BTIQA*-Menschen?
LGBTIQA*
Der Begriff LGBTIQA+ ist eine Abkurzung und steht fur «Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex, Queer, Asexual». Mit dem * oder einem + werden weitere Geschlechtsidentitaten oder sexuelle Orientierungen eingeschlossen.
Seit es den Feminismus gibt, werden seine Vertreter*innen angegriffen. Zuerst von Mannern, die Angst um ihre Machtposition haben und immer noch so tun, als waren «Manner» von Natur aus so (zum Beispiel rational und stark) und «Frauen» anders (etwa emotional und schwach). Dann aber auch von Menschen, die darauf hinweisen, dass Feminismus sich meist fur weisse, heterosexuelle Frauen aus der Mittelschicht einsetzt und so Migrant*innen oder Transmenschen ausschliesst.
Tatsachlich hatte der Feminismus der1960er bis 80er dieses Manko. Doch seither hat sich der Feminismus verandert, beziehungsweise: den Feminismus gibt es gar nicht, vielmehr handelt es sich um eine Bewegung, die standig im Wandel ist und sich durch jede Generation neu erfindet. Es gibt keine Gruppe ausgewahlter Frauen, die bestimmt, welche Agenda der Feminismus verfolgt und was auf dem Plan steht.
Jede*r kann sich selber Feminist*in nennen und sich fur die Rechte der Geschlechter einsetzen. Denn das hat sich – meiner Meinung nach (sic!) – deutlich gewandelt: Feminismus ist heute ein Kampf um die Gleichstellung ALLER Geschlechter, Identitaten und Orientierungen, lange nicht mehr nur der Cis-Frauen.
Cis-Personen
Wer also, wie du, Johannes es tust, lauthals einen Feminismus kritisiert und davon redet, Altfeministinnen in der SP hatten den Mannern das «schweigende Abnicken beigebracht», kritisiert damit am meisten sich selbst.
Naturlich gibt es sogenannte Altfeministinnen, die sich stramm fur «ihre» Frauenrechte einsetzen. So what! Als ich selber in der SP fur die Gleichstellung aktiv wurde, hat mir eine altere Genossin deutlich gesagt: «Was du da machst, machen wir schon seit 20 Jahren, du musst nicht denken, wir hatten auf dich gewartet.»
Aufgrund dieser Erfahrung eine pauschale Einschatzung uber Frauen oder Feminist*innen zu machen, ware falsch. Stattdessen habe ich Verbundete gesucht, mit denen ich konstruktiv zusammenarbeiten konnte. Wichtig ist, nicht gegeneinander, sondern miteinander gegen diskriminierende Normen vorzugehen. Sei es wegen der Herkunft, der Hautfarbe, dem Geschlecht oder dem Portemonnaie: Fast alle Menschen kennen eine Form von Diskriminierung. Namlich alle, die nicht weiss, heterosexuell und mannlich sind oder die patriarchale Strukturen kritisieren.
Es braucht eine Politik nebeneinander: Einsatz fur Frauenrechte wie Lohngleichheit oder gleiche Rechte bezuglich Familie, Privates, Beruf und Karriere genauso wie den Einsatz fur eine Welt, in der kein Mensch mehr gezwungen ist, sich als Frau oder Mann zu definieren. Oder sich als Politikerin erklaren muss, wie sie das jetzt machen will mit Kindern und Politik, so wie Annalena Baerbock (Kanzlerkandidatin Deutschland, Grune) es gerade muss, ganz im Unterschied zu Herr Soder und Co.
Der Mann ist immer noch der Massstab, «das Eine», wie Simone de Beauvoir 1949 in ihrem Buch «Le Deuxieme Sexe» beschrieb, die Frau «das Andere». Naturlich, lieber Johannes, ist «der Eine» ein weisser, heterosexueller, gesunder Mann. Als schwuler Mann gehorst du nicht dazu, ebenso wenig wie Frauen, Trans*- Inter*-Menschen, alle Nichtweissen und vulnerablen Menschen.
Dieses Bild vom «Super-Mann» ist ein Ideal, das vom Sockel zu sturzen fur viele nicht so einfach ist. Wir konnen doch Mannern nicht standig weismachen, selbst wenn sie noch kleine Jungs sind, dass sie stark sein, gerne kampfen, gerne gewinnen, omnipotent sein, Karriere machen, Fussball, Frauen und Autos toll finden, Raum und Macht beanspruchen mussen und dann auf einmal verlangen, sie mussten sich jetzt emanzipieren, uber Gefuhle reden, sensibel sein und Frauen auf dem Chefsessel Platz machen.
Lass uns daruber diskutieren.
Das ist fur viele Manner wie Frauen eine Uberforderung, weil sie ihr ganzes Leben nach den gangigen Geschlechternormen aufgebaut und ausgerichtet haben. Und ich gebe dir Recht: Solange dieser «Super-Mann» aufrechterhalten wird, konnen sich Manner tatsachlich nur schwer gegen offentliche und hausliche Gewalt oder sexuelle Belastigung am Arbeitsplatz wehren, weil sich das schlecht mit dem Ideal des «Super-Mannes» vertragt. Das ist quasi das Gesetz der hegemonialen Mannlichkeit:
Ein Mann, der sich schwach zeigt, ist keiner. Mir ist klar, dass auch viele Manner auch unter diesen starren Mannlichkeitsbildern leiden.
Und dennoch muss eine Feministin beanspruchen konnen, sich fur Frauenrechte und -schutz einzusetzen, auch ohne «den Einen», den Ausnahmemann mitzudenken, auch wenn er nicht allen Kategorien des «Super-Mannes» weiss, mannlich, hetero, entspricht.
Frauen waren Jahrhundertelang «mitgedacht» und nach langem Kampf haben sie es (noch immer nicht) geschafft, sich einen ebenburtigen Platz in der Politik, der Wirtschaft, im Film und der Geschichtsschreibung zu erkampfen. Das war nur dadurch moglich, weil sie sich gegen «den Mann» aufgelehnt haben. Das ist ein wichtiger Teil des Feminismus, selbst wenn der Begriff weit mehr umfasst: Heute muss sich die (queerfeministische) LGBTIQA*-Bewegung genauso gegen die Idee der Zweigeschlechtlichkeit auflehnen.
Seit dem Aufkommen der Mannerforschung als Teil der Geschlechterforschung in den 1990er-Jahren wird auch Mannlichkeit in der Wissenschaft und in politisch motivierten Kreisen diskutiert. Noch zu wenig allerdings. Mannlichkeitsstrukturen zu diskutieren wird uns als gendersensible Gesellschaft weiterbringen.